Streetwork in Hannover: Wenn Sozialarbeit und medizinische Erstversorgung Leben retten

Für Menschen, die Suchtmittel konsumieren und auf der Straße leben, ist jeder Tag ein Balanceakt. Sie kämpfen ums bloße Überleben, streben nach sozialer Anerkennung und suchen nach innerer Ruhe. Ihre Sucht erfüllt oft eine Funktion. Viele hatten nie die Chance, traumatische Ereignisse anders zu verarbeiten. In dieser komplexen Realität sind Fabienne, Tina und Moritz unverzichtbar. Die drei Streetworker:innen der Suchthilfeeinrichtung Stellwerk unterstützen die Betroffenen nicht nur durch ihre Fachkompetenz, sondern auch durch persönliche Hingabe und Einfühlungsvermögen. Sie hören zu, wo andere weghören, spenden Trost, wo Hoffnung schwindet, und bieten praktische Unterstützung, wo sie dringend benötigt wird.

Die Bedeutung der Beziehungsarbeit
Eine der grundlegenden Säulen ihrer Arbeit ist die Beziehungsarbeit. „Vertrauen ist der Schlüssel zu allem. Ohne Vertrauen können wir keine Brücken zu den Menschen bauen, die vom Hilfesystem bisher nicht erreicht wurden. Sie müssen wissen, dass wir da sind, um zu helfen und Verständnis für ihre Situation zeigen, auch wenn wir sie nicht selbst erlebt haben“, sagt Fabienne. Diese Vertrauensbasis ermöglicht es den Streetworker:innen, ihre Klient:innen in ihrer Lebenswelt abzuholen. Tina fügt hinzu: „Auf der Straße sind wir nicht nur zum Verteilen von Safer-Use-Artikeln oder für die medizinische Erstversorgung. Wir hören zu, verstehen die individuellen Bedürfnisse und unterstützen bei der Grundversorgung mit Lebensmitteln und Hygieneprodukten, begleiten zu behördlichen Terminen oder sprechen einfach über den Alltag und dessen Herausforderungen. Mittlerweile kommen viele Menschen von selbst auf uns zu, oft durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Stammklient:innen, die uns als verlässliche Anlaufstelle kennen, empfehlen uns weiter. Fabienne ist in der Szene sehr bekannt, und dasselbe gilt auch für Moritz und mich. Ohne diese tiefen Beziehungen könnten wir keine nachhaltigen Veränderungen bewirken.“

Neue Herausforderungen durch die Umgestaltung des Raschplatze
Die Umgestaltung des Raschplatzes markierte einen Wendepunkt für die Klientel des Stellwerks. Einst ein zentraler Treffpunkt für viele suchtmittelabhängige und wohnungslose Menschen in Hannover, wurde der Platz durch städtebauliche Maßnahmen zu einem unwirtlichen Ort für diejenigen, die dort sonst ihre sozialen Kontakte pflegten und Unterstützung fanden. Moritz erinnert sich an die Umgestaltung im Sommer 2023 und die Schwierigkeiten, die damit einhergingen: „Die Menschen waren plötzlich verdrängt und wussten nicht mehr, wohin sie gehen sollten. Der Raschplatz war mehr als nur ein Ort zum Verweilen; er war ein zentraler Ort der Gemeinschaft, wo sie sich sicher fühlten und Unterstützung erhielten.“ Fabienne ergänzt: „Wir spürten sofort die Auswirkungen der Verdrängung. Es kam zu mehr medizinischen Notfällen, und die Sichtbarkeit suchtmittelkonsumierender Menschen nahm in anderen Stadtteilen zu. Es war frustrierend zu sehen, wie schnell sich die Situation verschlechterte und wie wenig die Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigt wurden. Vor allem, da sie, wie alle anderen Menschen auch, das Recht haben, sich am Raschplatz aufzuhalten. Jeder Mensch hat das Recht auf soziale Teilhabe, Gesundheit und Respekt. Das ist meine feste Überzeugung.“

Die besondere Rolle der medizinischen Erstversorgung
Die neuen Herausforderungen erhöhten den Bedarf an Streetwork, um die Versorgung der betroffenen Menschen sicherzustellen. Das Streetwork-Team wurde vergrößert und mit Tina kam eine medizinische Fachkraft hinzu. Ihre Erfahrung ermöglicht es dem Team, neben der Straßensozialarbeit auch schnelle medizinische Erstversorgung zu leisten. „Viele unserer Klient:innen haben gesundheitliche Probleme, sei es durch chronischen Suchtmittelkonsum, vernachlässigte Wunden oder andere Komplikationen, wie Hitzeschlag und Unterkühlung. Als medizinische Fachkraft kann ich ihnen direkt vor Ort helfen oder sie in unserer Ambulanz im Stellwerk erstversorgen. Für weitere medizinische Untersuchungen, das Ausstellen von Rezepten und die Vermittlung in Krankenhäuser, ist ein Arzt der Caritas-Straßenambulanz zuständig, der uns wöchentlich im Stellwerk besucht. Diese niedrigschwellige medizinische Hilfe kann Leben retten“, erklärt Tina. Fabienne betont die Notwendigkeit der Kombination aus sozialer Arbeit und medizinischer Erstversorgung: “ Für viele unserer Klient:innen stellt der Zugang zu gesundheitlicher Unterstützung eine große Hürde dar. Sie schämen sich für ihre Situation, fühlten sich missverstanden und stigmatisiert, wenn sie medizinische Einrichtungen aufsuchten. Seit Oktober 2024 können wir dank des in Hannover einzigartigen Zusammenspiels von Sozialer Arbeit und medizinischer Erstversorgung endlich Hemmschwellen abbauen. Wir gewährleisten, dass die Betroffenen schnell Hilfe erhalten, von uns und bei Bedarf auch von dem Arzt, der uns regelmäßig unterstützt. Hier bei uns gibt es bedingungslose Hilfe. Jede Person, die Unterstützung benötigt, bekommt sie – unabhängig von Abstinenzmotivation oder äußeren Umständen. Wir respektieren jede Person und bieten Unterstützung mit Wertschätzung, ohne zu werten.“

Streetwork aus dem Stellwerk rettet Leben

Ein emotionales Beispiel: Der Verbandwechsel
Ein besonders bewegendes Beispiel für die Bedeutung ihrer Arbeit ist der Fall eines Klienten, dessen Haut unter einem alten, ungepflegten Verband mit Madenbefall litt. Tina erinnert sich an die Notwendigkeit, schnell zu handeln und die richtige medizinische Erstversorgung sicherzustellen: „Es war eine extrem schwierige Situation, die sofortiges Eingreifen erforderte. Wir haben ihn so gut wie möglich vor Ort versorgt und dann zur weiteren Behandlung in die Notaufnahme eines Krankenhauses begleitet. Ohne diese schnelle Intervention und die schnelle Vermittlung zur weiterführenden Hilfe hätte sich sein Zustand dramatisch verschlechtern können. Solche Momente zeigen uns, wie wichtig es ist, dass wir jeden Tag auf die Straße gehen und uns für die Menschen einsetzen, die oft vergessen werden.“

Finanzielle Absicherung für nachhaltige Hilfe
Fabienne, Tina und Moritz betonen die Dringlichkeit einer sicheren Finanzierung für ihre Arbeit. „Beziehungsarbeit braucht Zeit und Kontinuität“, erklärt Fabienne. „Um langfristige Veränderungen zu bewirken, müssen wir sicherstellen, dass wir über ausreichende Ressourcen verfügen, um unsere Arbeit effektiv fortzusetzen.“ Tina ergänzt: „Rückfälle und Rückschläge gehören zur täglichen Realität, aber wir müssen auch in der Lage sein, unsere Klient:innenen immer wieder aufzufangen und ihnen als Bezugspersonen erneut eine Perspektive zu bieten. Das ist nur möglich, wenn wir die nötige Unterstützung haben, durch gesicherte Finanzierungsstrukturen der jeweiligen Gebietskörperschaften und eine enge Zusammenarbeit mit Kooperationspartner:innen im Suchthilfesystem.

Zukunft der Streetwork und benötigte Unterstützung
Die Arbeit von Fabienne, Tina und Moritz ist geprägt von unvorhersehbaren Herausforderungen und emotionalen Höhen und Tiefen. „Es ist ein Marathon, kein Sprint“, sagt Moritz. „Wir können nicht erwarten, alle Probleme über Nacht zu lösen. Jeder kleine Fortschritt zählt.“ Ein Beispiel: Eine Person, die lange nicht krankenversichert war, hat nun eine Versicherung und die Möglichkeit, an einem Substitutionsprogramm teilzunehmen, dank unserer kontinuierlichen Unterstützung. Diese kleinen Erfolge machen einen großen Unterschied. Wenn sich das Leben eines Menschen verbessert – sei es durch gestärktes Selbstwertgefühl, regelmäßige medizinische Versorgung, eine Schlafstelle, den Empfang von Leistungen – dann ist das für uns ein Erfolg. Selbst kleine Fortschritte, wie das Essen einer Mahlzeit, trotz gehemmtem Hungergefühl durch den Suchtmittelkonsum, sind bedeutend. Oft wird von uns erwartet, ordnungspolitische Maßnahmen umzusetzen, was jedoch nicht unsere Aufgabe ist. Unsere Arbeit soll nicht als Verwaltung sozialer Probleme gesehen werden, sondern als echte Unterstützung, die darauf abzielt, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern und langfristige Veränderungen zu erreichen. Wir setzen uns dafür ein, dass jeder Mensch das Recht hat, in der Öffentlichkeit zu sein, und arbeiten gleichzeitig daran, die Situation von Menschen in schwierigen Lebenslagen zu verbessern.

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